Donnerstag, 15. Dezember 2016

Eine kleine Geschichte als Einstieg...


Einst stand ein Bogenschütze auf der Wiese vor seinem kleinen Häuschen und schoss Pfeile auf eine Scheibe. Er legte den Pfeil an die Sehne, spannte, zielte und löste – und jedesmal traf der Pfeil die Mitte der Scheibe, denn er war ein guter Bogenschütze.
Da setzte sich ein Vogel auf einen Ast in seiner Nähe und betrachtete ihn mit schiefgelegtem Kopf.
”He, du, willst du einen Schatz finden?“
Erschrocken fuhr der Bogenschütze herum. Er sah niemanden. Doch erneut ertönte die Stimme:
”He du, willst du einen Schatz finden?“
Tatsächlich, der Vogel hatte zu ihm gesprochen!
”Einen Schatz? Natürlich, jeder findet gerne einen Schatz!“
”Nun, so höre genau zu, und ich verrate dir, wie du es anstellst! Stelle dich auf die Schwelle der Haustür deines Hauses. Lege deinen ältesten Pfeil in deinen Bogen ein. Dort, wo er nach dem Lösen auf den Boden aufschlägt, musst du graben und du wirst einen Schatz finden.“
Damit flog der Vogel davon.
Der Bogenschütze rannte zu seinem Haus, stellte sich auf seine Türschwelle, legte seinen ältesten Pfeil ein, spannte den Bogen vor Erwartung zitternd, und löste den Schuss. Weit flog der Pfeil, bis auf das Grundstück seines Nachbarn, eines reichen Bauern. Der Bogenschütze packte seine Schaufel und eilte dem Pfeil nach. Als er ihn fand, da steckte der Pfeil genau vor den Füßen seines Nachbarn, der gerade auf seinem Feld unterwegs war. ”Ja, spinnst, Nachbar? Schießt mir einen Pfeil vor die Füße! Kann man nicht mal auf seinem eigenen Feld ohne Gefahr spazieren gehen?“
Da erzählte der Bogenschütze dem Bauern von dem Vogel.
”A Vogel, aha. Jaja. Na wennst meinst. Aber das sag ich dir: das ist mein Land, also gehört die Hälfte vom Schatz mir, ja.“ Was blieb dem Bogenschützen anderes übrig, als zuzustimmen. ”Na, dann grab.“ Und der Bogenschütze grub. Und grub. Aber er fand keinen Schatz.
”Na, entweder hat dich der Vogel am Schmäh ghabt oder – na klar, eh klar. Wo ist der Pfeil glandet? Vor meine Füß. Das kann nur heißen, dass eigentlich ich den Pfeil schießen soll!“
So liefen sie zurück zum Häuschen des Bogenschützen. Der Bauer stellte sich auf die Türschwelle, legte den ältesten Pfeil an die Sehne spannte, löste – und der Pfeil flog weit davon. Der Bogenschütze schnappte die Schaufel und sie liefen dem Pfeil hinterher.
Als sie ihn fanden, steckte er direkt vor den Füßen des Grafen, der auf seinen Ländereien spazieren ging. ”Verdammt noch mal, was soll das? Geht man spazieren, wird man attackiert! Ich verlange Genugtuung! Zumindest Rechtfertigung!“
Der Bauer erzählte dem Grafen von dem Vogel und dem Schatz.
”Ahso, nun ja. Ist ja wohl klar, dies sind meine Ländereien, mir gehört die Hälfte vom Schatz!“
”Eh klar, Herr Graf, und vom Rest ghört die Hälfte mir, weil ich hab ja den Pfeil zu ihren Füßen geschossen.“
”Gut, dann grabt.“
”Hast ghört, Bogenschütze, graben sollst.“
Und der Bogenschütze grub. Und grub. Doch er fand keinen Schatz.
”Nun, klare Sache. Meine Füße – ich soll schießen!“
Und so eilten sie zum Haus zurück und der Graf stellte sich auf die Türschwelle, legte den ältesten Pfeil an die Sehne spannte, löste – und der Pfeil flog weit davon. Der Bogenschütze schnappte die Schaufel und sie liefen dem Pfeil hinterher.
Als sie ihn fanden, steckte er genau vor den Füßen des Königs.
”Alarm, Attentat! Man versucht, mich umzubringen!“
Der Graf erklärte dem König, was geschehen war.
”Soso. Ein Schatz. Nun, dies ist mein Reich, so gehört mir die Hälfte des Schatzes.“
”Natürlich, Majestät. Mir die Hälfte vom Rest, hab ich doch den Pfeil geschossen.“
”Und mir die Hälfte vom Rest von der Hälfte, weil ich hab den Pfeil zu den Füßen vom Grafen geschossen.“
”Nun denn, Untertanen, so grabt.“
”Gehört? Graben!“
”Hast ghört, Bogenschütze? Graben sollst.“
Und der Bogenschütze grub. Und er grub. Aber er fand keinen Schatz.
”Nun, die Sache ist ja wohl klar. Ich bin der König, ich muss den Pfeil schießen.“
Und so eilten sie zum Haus zurück und der König stellte sich auf die Türschwelle, legte den ältesten Pfeil an die Sehne spannte, löste – und der Pfeil flog weit davon. Der Bogenschütze schnappte die Schaufel und sie liefen dem Pfeil hinterher.
Als sie den Pfeil fanden, steckte er in der Wiese – und weit und breit war kein Mensch zu sehen. ”Na eben“, sagte der König. ”Höher als ich gibt es nicht. Hier sind wir richtig.“
Und der Bogenschütze grub. Und grub. Und grub. Doch da war kein Schatz.
”Sehr peinlich“, meinte der König. ”Blamabel regelrecht. Na, ein Vogel, ts. Also, meine Herrschaften, genug von dem Spaß. Dass mir niemand von ihnen auch nur je ein Wort von diesem Schatz erwähnt, verstanden? Sehr blamabel.“ Und der König ging.
”Gehört? Stillschweigen! Kein Wort!“ Und auch der Graf ging.
”A schöner Schaß, ned? Der Vogel hat dich ganz schön verscheißert... naja, vergess mas halt.“ und auch der Bauer ging.
Der Bogenschütze ging nachdenklich nach Hause. Hatte der Vogel ihn wirklich angelogen?
Vor seinem Haus saß sein Sohn in der Sonne.
”Sag Papa, was ist denn da heute los, all die fremden Leute.“
Und der Bogenschütze erzählte ihm von dem Vogel und dem Schatz.
”Aber wo wir auch gegraben haben, wir haben keinen Schatz gefunden. War wohl ein Lügenvogel.“
”Nein, Vater, das glaub ich nicht. Sag, was hat der Vogel genau gesagt?“
”Er sagte, Stelle dich auf die Schwelle deines Hauses. Lege deinen ältesten Pfeil in deinen Bogen ein. Dort, wo er nach dem Lösen auf den Boden aufschlägt, musst du graben und du wirst einen Schatz finden.“
Da lachte der Sohn. ”Vater, ich weiß, wo der Schatz ist! Gib her!“ Und er nahm den Bogen und den Pfeil, stellte sich auf die Türschwelle und sagte: ”Du hast nicht genau zugehört. Pass auf, ich mache nun genau das, was der Vogel sagte.“
Und er legte den ältesten Pfeil an die Sehne, doch statt zu spannen, ließ er einfach los, und der Pfeil plumpste zu Boden, direkt vor der Türschwelle. ”Er hat nichts von spannen gesagt. Hier musst du graben.“
Und der Bogenschütze grub. Und tatsächlich, da war der Schatz, eine ganze Kiste voller Goldmünzen. Und der Bogenschütze musste ihn nicht einmal mit jemandem teilen, denn der König hatte ihnen ja geboten, nie auch nur ein Wort über den Schatz zu verlieren...
(von Mariou, nach einer alten Legende)